Kunstwelten: Joseph Beuys und die soziale Plastik

12.05.2021 Sara Hirschmüller

Coyote, I like America and America likes me: Was willst du mir sagen?

Autorin: Stephanie Sczepanek (Mitarbeiterin Kunstvermittlung)

„Why do I work with animals to express invisible powers? – You can make these energies very clear if you enter another kingdom that people have forgotten, and where vast powers survive as big personalities. And when I try to speak with the spiritual existences of this totality of animals, the question arises of whether one could not speak with these higher existences too, with these deities and elemental spirits […]. The spirit of the coyote is so mighty that human being cannot understand what it is, or what it can do for humankind in the future. […] I believe I made contact with the psychological trauma point of the United States' energy constellation: the whole American trauma with the Indian, the Red Man. You could say that a reckoning has to be made with the coyote, and only then can this trauma be lifted.

 

Carin Kuoni, Energy Plan for the Western Man: Joseph Beuys in America, Four Walls Eight Windows, NYC, 1990, Seite 141–144

 

Vom 21. bis 25. Mai 1974 zeigte sich Joseph Beuys in der Galerie von René Block in New York, genauer in SoHo, seinem Publikum in der Begegnung mit einem lebenden Kojoten – Little John.  Die Aktion mit dem Titel Coyote, I like America and America likes me wurde innerhalb der Kunstwelt zu einer ikonischen Aktion. 

            Am John F. Kennedy International Airport in New York warteten Mitarbeiter:innen der Galerie auf den Künstler und brachten ihn mit Hilfe einer Bahre zu einem wartenden Krankenwagen. Beuys war selbst als Person nicht erkennbar, da er komplett eingehüllt in Filz auf der Transportliege lag. Mit dem Krankenwagen wurde er direkt in die Räume der Galerie gebracht, dabei fuhr der Wagen mit Blaulicht durch die Straßen New Yorks. In einem separaten Raum ließ der Künstler sich zusammen mit einem Kojoten namens „Little John“ für die Dauer von fünf Tagen einschließen. In diesem Raum ordnete er täglich die neueste Ausgabe des Wall Street Journal und stapelte verschiedene Filzbahnen. Außerdem war er ausgestattet mit Handschuhen, einem Spazierstock und einer Triangel, die er von Zeit zu Zeit spielte. Zu Beginn war der Kojote aggressiv und verunsichert, aber mit der Zeit wurde das Tier zutraulicher und näherte sich dem Künstler. Beuys legte sich auf das Strohlager, das eigentlich für den Kojoten vorgesehen war, und das Tier dagegen schlief auf den Ausgaben des Wall Street Journal. Als er sich verabschieden musste, drückte er den Kojoten an sich und verstreute anschließend das Stroh im ganzen Raum. Zum Abschluss der Aktion ließ er sich, wie bereits zu Beginn, wieder in Filz einwickeln und im Krankenwagen zum Flughafen bringen.

            Die Aktion konnte durchgehend besucht werden und wurde durch Helmut Wietz dokumentiert. Sie wurde in der 2006 gezeigten Ausstellung I like America. Fiktionen des Wilden Westens in der Schirn Kunsthalle (Frankfurt) und 2008 in der großen Beuys-Retrospektive Die Revolution sind wir des Hamburger Bahnhofs (Berlin) gezeigt und thematisiert.

 

Mit der Aktion Coyote, I like America and America likes me wollte Beuys einen nationalen Dialog in Bezug auf „das Amerikanische Trauma“, wie der Künstler es nannte, anstoßen. Während der Titel einen an den populären Mythos der Vereinigten Staaten als „melting pot“ denken lassen könnte, sah Beuys in den 1970er Jahren in Amerika eine Nation, die über ihre Beteiligung am Vietnamkrieg gespalten und besonders durch die Nachwirkungen der Ölkrise des Jahres 1973 als auch durch die Watergate-Affäre beeinflusst war und deren weiße Bevölkerung indigene Bevölkerungsgruppen, Einwanderer und Minderheiten unterdrücken würde.

 

Interpretation und Selbstinterpretation verurteilte der Künstler als „unkünstlerisch“, weshalb er seine Werke auch nicht interpretiert hat und sie oftmals für andere auch schwer zugänglich sind. Jedoch verstand sich Joseph Beuys selbst als Lehrer, dessen Aufgabe es sei, Diskurse und Prozesse der Transformation anzuregen. Im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs betrachtete er Kunst als produktive Kraft zur Neugestaltung der Gesellschaft.

To be a teacher is my greatest work of art. The rest is the waste product, a demonstration. If you want to express yourself you must present something tangible. But after a while this has only the function of a historic document. Objects arent very important any more. I want to get to the origin of matter, to the thought behind it.“

 

                        aus einem im Jahr 1969 geführten Interview mit dem US-amerikanischen Künstler Willoughby Sharp

 

Beuys sah in allen Tätigkeiten, die zu einer Änderung der menschlichen Verhältnisse führen könnten, künstlerische Potentiale und unabhängig davon, ob sie konkret und fassbar sind oder nicht, könnten diese durch einen künstlerischen Akt gestaltet werden. Hierbei wird die Gesellschaft selbst zu ihrem eigenen Material und dabei ist es nicht mehr wichtig, ob das Kunstwerk selbst aus der Hand von Künstler:innen stammt. Er sprach sich vielmehr dafür aus, alle Formen der Kreativität als Kunst aufzufassen. Diese Idee wurde von ihm als „soziale Plastik“ oder auch als „sozialer Organismus“ bezeichnet. Die Idee der „Sozialen Plastik“ meint nach Beuys, dass das Denken des Menschen durch die Sprache und kreatives Handeln sich selbst und die Gesellschaft verändert und sie somit formt.

 

Die Aktionen und Performances von Beuys können auch als wegweisend für eine performative Handlung der Gegenwartskunst gesehen werden. Für mich zeigt die Aktion Coyote, I like America and America likes me wie keine andere das Denken und Wirken von Beuys vor dem Hintergrund seiner Aussage „to be a teacher is my greatest work of art.“

            Die performative Handlung begleitet im Dialog, regt Diskussionen an und vermittelt zwischen den verschiedenen Perspektiven. Dabei können die Arbeiten vielschichtig erforscht sowie hinterfragt werden. Die Performance, die auch als Live-Art bezeichnet wird, ist auf den Moment des Machens und Erlebens konzentriert. Damit stellt sich im Sinne der sozialen Plastik oder vielmehr ihrer Tradition die Frage nach dem individuellen Erfahrungspotential solcher Situationen und welche Rolle dabei die Tatsache spielt, dass es sich um eine Auseinandersetzung mit Kunst, besonders um Gegenwartskunst handelt. Für das performative Handeln bedeutet dies, dass eine Situation entsteht und/oder ein Raum eröffnet wird, aus der/dem heraus die Teilnehmerinnen und Teilnehmer handeln und Einfluss auf das nehmen können, was passiert.

 

Kunstvermittlungssituationen und -prozesse können als Möglichkeit des Erkennens und Nachdenkens über die jeweilige Rolle aller Beteiligten im Hinblick auf die Bedeutung der eigenen, oft unbewussten Gestaltungsmacht verstanden werden. Welche Bedingungen entstehen, wenn in der Vermittlung Subjekte, Rollen sowie Hierarchien hinterfragt und aufgebrochen werden?

Bernadett Settele beschreibt dies in Performing the Vermittler_in, in: Art Education Research als ein Prinzip der Performativität in der Vermittlung von Kunst, in dem das Sprechen und das Tun als Handlungsmodi „produzierte, produzierende und produktive“ Figuren generiert mit dem Ziel, Besucher:innen in den beschriebenen Dialog treten zu lassen. Das „Sprechen“ und „Tun über und mit Kunst stellt eine Situation her, die zu einer gemeinsamen Handlung befähigt, ohne sich selbst dabei die Autorenschaft des Gesagten oder des Getanen zuzuweisen, sondern für die Beteiligten Voraussetzungen schafft, die eigene Rolle benennen und verorten zu können. Es entsteht neues Wissen – auch im Sinne von Einschätzungen und Wahrnehmungen – über die Kunst, das aus der Situation heraus, das heißt dem performativen Prozess selbst, generiert wird. 

Kategorie: Kunstwelten