Albert Renger-Patzsch, Wattenlandschaft im ausgelaufenen See, um 1951
Autor: Mario Schröer (Mitarbeiter Kunstvermittlung)
Ich habe mir in einem vielgenutzten Forum die derzeit im Netz populärsten Landschaftsfotografien angeschaut. Ich war beeindruckt von außergewöhnlichen Farben, überraschenden Perspektiven, von Witz, Größe und Vielschichtigkeit! Anlässlich des Tages der Naturfotografie am 15. Juni widme ich mich hier allerdings einer auf den ersten Blick weniger spektakulären Arbeit. Wattenlandschaft im ausgelaufenen See von 1951 ist eine von 34 Aufnahmen aus dem Album Rund um den Möhnesee, das 2013 für die Sammlung des LWL-Museums für Kunst und Kultur angekauft wurde. Wegen ihrer hohen Lichtempfindlichkeit werden die Aufnahmen im Wechsel gezeigt. Wir finden sie in einem Raum, der eine Schwelle zur Moderne markiert, gemeinsam mit den Landschaftsgemälden der Romantik, die dem Unbestimmten, Unausgesprochenen, Geheimnisvollen eine Form geben. Der Fotograf heißt Albert Renger-Patzsch.
Wir betrachten eine Landschaft. Menschenleer, durchzogen von breiten und schmalen, gestreckten und geschwungenen Wasserflächen. In der Ferne sind diffus bewaldete Hügel zu erkennen, teils verdeckt durch die Arkaden einer entfernten Brücke. Nur wenig ist vom Himmel sichtbar. Mit meinem ersten Versuch einer Beschreibung bin ich unzufrieden. Mein Ansatz erscheint mir zu unpräzise und irreführend. Denn es geht nicht um eine Landschaft, sondern um die Fotografie einer Landschaft. So trivial diese Einsicht erscheint, sie ist gerade für die formbezogene, sachlich nüchterne Fotografie von Renger-Patzsch entscheidend.
Also in etwa so: Wir betrachten das Bild einer Landschaft, ein Querformat, nicht viel größer als DIN A5, in Schwarz-Weiß. Genauer: in vielen abgestuften Grauwerten. Ein enger Bildausschnitt, das heißt, wir sehen die Landschaft nur teilweise. Lineare Konturen schneiden den linken und rechten Bildrand und öffnen das Bild für eine imaginäre Fortsetzung. Die untere Bildhälfte wird bestimmt von einer diagonalen, breiten Wasserfläche. Weiter oben sind die Landschaftsstrukturen deutlich kleinteiliger, so heben sich scharf die feinen Strukturen der Brückenarkaden von der schmalen, in diffuses Licht getauchten Himmelszone ab. Bis hierhin haben unsere Blicke viele Linien überschritten, wir werden in die Tiefe gezogen. Zudem erzeugen die schmaler werdenden Wasserflächen sowie das Zustreben auf einen Fluchtpunkt rechts außerhalb des Bildes ein Bewegungsmoment.
„Die Fotografie macht es dem Betrachter nicht leicht“, habe ich im Gespräch über das Bild gehört. Gemeint ist, dass der enge Bildausschnitt Informationen zurückhält. Auch das gestauchte Querformat passt so wenig zum Impuls, die Weite einer Landschaft abzutasten – wir werden in unserer Neugier beschnitten. Ich glaube, dass diese Reduktion, dieses Zügeln die Qualität der Arbeit ausmacht.
Albert Renger-Patzsch, 1897 in Würzburg geboren, beherrschte bereits im Alter von 14 Jahren das technische Rüstzeug für seine spätere Karriere als selbständiger Fotograf. Er war einer der Künstler, die begannen, die Fotografie zu emanzipieren: Sein Ziel war nicht, malerische Wirkungen mit den Mitteln der Fotografie zu erzielen, sondern die der Technik innewohnenden Qualitäten zu nutzen. Sein Band Die Welt ist schön (1928) stellt in 100 Fotografien Oberflächen, Strukturen, Formen von Dingen dar, mehr nicht! Enge Bildausschnitte blenden Kontexte aus. Es werden keine Geschichten erzählt, sondern Die Dinge (so der von Renger-Patzsch ursprünglich angedachte Titel) in ihrem So-Sein dargestellt – kühl, nüchtern, objektiv. Ein ästhetisches Manifest des fragmentierenden, sachlichen Blicks! Dieser Ansatz stellt ihn heute etwa neben August Sander und Carl Blossfeldt in die erste Reihe der neusachlichen Fotografie.
Ab 1929 arbeitete Renger-Patzsch in Essen in einem für ihn im Museum Folkwang eingerichteten Atelier. Jahrzehnte vor Bernd und Hilla Becher entstanden menschenleere Fotos von Industrieanlagen, aber auch von Wohnbebauungen und Landwirtschaft im Ruhrgebiet. Seit Mitte der 30er Jahre erhielt er Aufträge von Industrieunternehmen, die ihn finanziell unabhängig machten. Nachdem das Atelier und sein gesamtes Negativarchiv 1944 durch einen Bombenangriff zerstört wurden, floh Renger-Patzsch mit seiner Familie in das kleine Dorf Wamel am Möhnesee, heute Teil der Gemeinde Möhnesee im Kreis Soest. Hier begann er sich der Naturfotografie zu widmen. Neben der „Wattenlandschaft“ zeigen die 34 Fotografien Rund um den Möhnesee Motive aus der Gegend: den See mit Staudamm, Wiesen, Felder, Häuser, Wälder.
Unsere Fotografie zeigt den See bei sehr niedrigem Wasserstand. Im niederschlagsarmen Jahr 1951 führten die Flüsse Möhne und Heve, die seit 1913 im Möhnesee aufgestaut werden, so wenig Wasser, dass der schlickartige Grund des Sees sichtbar wurde. Der Titel forciert die Assoziation mit dem Wattenmeer der Nordsee und ihren wasserführenden Prielen bei Niedrigwasser. In dieser assoziierenden Form ist der Titel eine Ausnahme im Werk von Albert Renger-Patzsch. Die am oberen Bildrand sichtbare Brücke ist die Ruine der Steinbrücke bei Körbecke. Sie wurde Ende des zweiten Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht gesprengt, um die alliierten Truppen zu stoppen. Ab 1962 erfolgte ein Wiederaufbau als Fußgängerbrücke.
Zurück zur Fotografie: „Schwarz-Weiß ohne die Farben Schwarz und Weiß“, hat ein Kollege formuliert. Wir erleben ein Auffächern der gesamten Palette von Grauwerten. Die beinahe zweidimensionalen Strukturen am unteren Bildrand sind übersäht von kleinstem Nebeneinander zwischen hell reflektierend und abgedunkelt matt. Wie aufgesprüht erscheinen diese Einheiten, mal feucht, glatt, ölig, dann spröde, rau, stumpf. Die kleinteilige Struktur setzt sich in auf der vom Wind gekräuselten Wasserfläche fort und leitet über zu weichen, moosartig sich anschmiegenden Formationen mit wie eingedrückten Vertiefungen, vollgesogen wie ein Schwamm. In dieser Weise Texturen darzustellen, vermag nur die Fotografie! Die Beschreibung unserer Assoziationen ließe sich lange fortsetzen. Wohlgemerkt: Unsere Assoziationen beschreiben nicht die abgebildete Landschaft, sondern das Abbild der Landschaft.
Schlagen wir noch einen Bogen zu einer Fotokünstlerin, deren Nachlass zu Beginn des Jahres für die Sammlung des Museums erworben werden konnte: Anneliese Kretschmer. Ähnlich wie Renger-Patzsch arbeitete sie fast ausschließlich in Schwarz-Weiß und ließ die reale Welt und die Dinge selbst sprechen. 1962 porträtierte Kretschmer den 65-jährigen Albert Renger-Patzsch in strengem Profil. Sein stolzer, vogelartiger Kopf – wie die Oberfläche unserer Landschaft! Fixiert sein verschlossener Blick etwas weit außerhalb des Bildes? Das Nichtgezeigte ist das heimliche Zentrum des Bildes! Oder schaut er in sein Inneres? Die Antwort liegt nicht im Bild. Sie liegt in uns.