Gabriele Münter entwirft ihre Gemälde mit Bleistift in kleinen Skizzenbüchern, umreißt die Gegebenheiten prägnant. Dabei stehen das Entdecken und die Signifikanz der in trivialen Details verborgenen Schönheit im Vordergrund. „Geschichten malen tat Gabriele Münter nie. [...] Sie sah die Welt als Stillleben,“ berichtet Johannes Eichner, Münters späterer Lebensgefährte. Objekte spielten also in ihrer Kunst eine wesentliche Rolle. Diese fand die Künstlerin in den alltäglichen Gegebenheiten ihres Umfelds. Zu jenem zählten 1912 die Wohnung in der Ainmillerstraße 36 in München und das heute sogenannte Münter-Haus in Murnau.
Häufig geht von den Wohnorten der Künstler:innen eine große Faszination aus: In ihren vier Wänden wird oftmals nicht einfach nur gewohnt, sondern programmatisch gelebt. Auch im Falle Gabriele Münters lassen ihre Wohnsitze wichtige Rückschlüsse auf ihr Werk zu. Betrachtet man die Gegenstände in dem Stillleben, so erzählen sie zuerst eine Geschichte über Münters und Kandinskys Münchner Wohnung. Sie füllten sie bis an Rand und Decke mit Kunststücken, die ihrer Haltung entsprachen – das Innere und Wesentliche zu erfassen. In dieser Sammlung wurde zwischen Kunst und Kunstgewerbe nicht unterschieden. So trug das Paar eine große volkskundliche Sammlung zusammen, die Seite an Seite mit eigenen Werken im Interieur ihren Platz fand. Da jene gesammelten Objekte immer wieder Anregungen für Stillleben boten, lässt sich vermuten, dass es sich bei unserem Stillleben um eine Bestandsaufname der bereits in der Wohnung drapierten Objekte handelt. Gabriele Münter untermauert diese These wie folgt: „Ich komponiere nicht. Ich sah etwas, was mir gefiel, notierte und malte es“. Tatsächlich sind beinahe alle Objekte in Münters Nachlass nachzuweisen. Das blaue Buch, das dem Gemälde seinen Titel verleiht, verweist auf den oben dargelegten Schaffensprozess der Künstlerin. Es könnte eines ihrer Skizzenbücher sein. Direkt hinter dem Skizzenbuch befindet sich ein schwarzgerahmtes Gemälde eines Engels, welches durch Fotografien nachweisbar ist, ebenso verhält es sich mit den Marien- und Heiligenfiguren. Die ungefasste Holzfigur weist, trotz ihrer Vereinfachung, starke Ähnlichkeit mit denen von Kandinsky aus Russland mitgebrachten Schreinerarbeiten auf. Auch der dunkelblaue Beutel mit der roten Kordel legt Zeugnis über ein weiteres Betätigungsfeld Münters ab: Zwischen 1903 und 1905 findet zwischen Kandinsky und Münter ein reger Austausch über die Entwürfe solcher Täschchen statt. Münter schafft Vorlagen für Textilien, die sie selbst ausführt. Letzter, aber wesentlicher Bestandteil ist ein weiteres Bild im Bild, genauer ein Hinterglasgemälde im Hintergrund des Werkes. Bekannt unter dem Titel Murnau von der Wasserseite entstand es 1910 und weist in die Anfangsphase der eigenständigen Hinterglasmalerei von Gabriele Münter. Bei Münters erstem Besuch in Murnau 1908 gaben die klaren Formen der Murnauer Landschaft entscheidende Impulse, prägten eine neue Sichtweise und führten zu expressiven Ausdrucksformen mit berauschender Farbigkeit in ihrer Malerei. Aber nicht nur die Landschaft beeinflusste Münter: „[…] vor allem wies mir die Volkskunst den Weg, namentlich die um den Staffelsee einst blühende bäuerliche Hinterglasmalerei“. Dort, in den Murnauer Sommern sesshaft, kann Münter, wie sie sagt „vom Naturabmalen [...] zum Fühlen eines Inhaltes“ gelangen. Dies bedeutet, dass das Hinterglasgemälde sowie Murnau nicht nur als Objekt Bestandteil des Stilllebens sind, sondern auch in der Gestalt des gesamten Gemäldes mitschwingen, ganz und gar formgebend sind – Murnau lässt die stillen Objekte leben.
Doch was ist das wahrhafte Leben der toten Dinge, welches die Betrachter:innen erschaudern lässt, der Inhalt der gefühlt werden kann? Es ist festzuhalten, dass die Lebensphase, in der die Künstlerin das Stillleben schuf, geprägt war von Disharmonie, welche wortwörtlich in den Münchener Wohnsitz Einzug hielt. Dies ging so weit, dass Münter aus ihrer eigenen Wohnung floh und bei verschiedenen Verwandten residierte, um diesen unerträglichen Verhältnissen zu entkommen. Münter glaubte, „daß der vergiftende Einfluß der Wirtschafterin viel Schuld an der Entfremdung Kandinskys getragen hat.“ Das ganz an den hinteren Rand gerückte festgehaltene Murnau hingegen hatte, „wie es scheint[,] [...] gut auf Kandinsky eingewirkt und die Beziehung der beiden vorübergehend glücklicher gemacht“, und leuchtet somit wie ein Sehnsuchtsort aus der Ferne. Ist diese Atmosphäre in das Stillleben hineingeflossen?
Münters Stillleben hält demnach den Werkprozess, die Sammeltätigkeit und die facettenreiche Arbeit der Künstlerin fest. Zugleich ist es Zeitzeuge ihrer künstlerischen Entwicklung und beschreibt die emotionalen Bewegungen der intensiven, aber schmerzhaften Beziehung Gabriele Münters.