Beim Betrachten eines Porträts kann man mehr vom Menschen sehen als nur sein Äußeres. Die Kleidung kann uns etwas über die Herkunft oder Lebensverhältnisse verraten. Die Körperhaltung kann etwas über das Verhalten aussagen. Das Gesicht kann uns einen Einblick in das Innere eines Menschen geben. KANN. Porträts bzw. Bilder vom Menschen haben das Potential, ganz bestimmte Eigenschaften der dargestellten Person sichtbar werden zu lassen. Aber es ist nicht in jedem Fall der Anspruch.
Vielleicht erahne ich im Bild vor mir etwas über die Lebensverhältnisse und das Verhalten von Fanny Mayberg, doch gleichzeitig schaue ich mich in diesem Museumsraum um und sehe viele weitere Porträts junger Frauen des frühen 19. Jahrhunderts. Eines ist auffällig: Sie sehen alle fast gleich aus. Der Blick, die Kleider, die Sanftheit.
Ich darf mich nicht täuschen lassen. Dieses Porträt hat keinen Anspruch auf Individualität. Für eine bürgerliche Gesellschaft der Aufklärungszeit gehörte das Porträt zum Selbstverständnis. Es hatte das Potential, das Ideal jener Zeit zu transportieren: Bildung und gesellschaftliche Zugehörigkeit. Im Falle der Frauen: Bildung in den musischen Disziplinen, Frommheit und Weiblichkeit in Form von Mutterschaft, Gattinnen-Dasein und Schönheit.
Diese Frauen waren Teil einer Öffentlichkeit und erfüllten in ihrem Dasein (und so auch in den Porträts) eine männliche Rollenerwartung. Wie hätten ihre Porträts wohl ausgesehen, wenn sie sich selbst gemalt hätten?
Ich atme auf und denke: Gut, dass das Ganze 200 Jahre her ist! Und überhaupt … heute können Frauen so gut wie nie zuvor selbst über ihr Bild bestimmen und sich durch ihr Äußeres und ihr Handeln von Rollenerwartungen lösen. Analog und digital!
… jetzt komme ich doch wieder ins Grübeln. Instagram, TikTok, YouTube und Co.: Wenn ich mich im digitalen öffentlichen Raum umsehe, muss ich feststellen, dass viele Frauen ziemlich gleich aussehen. Beach Waves, der perfekte Glow über der glatten sonnengebräunten Haut, volle Lippen, schlanke Nasenrücken, volle geschwungene Wimpern und ein wenig (oder viel) Blush auf Nase und Wangen. Es kommt mir vor wie eine Uniform für Frauen, die im Netz Bilder von sich veröffentlichen und uns ihren Lifestyle, ihre Daily Routines und ihre Personalities vermitteln.
Beauty und Make-up ist global eine der wirtschaftsstärksten Branchen. Das Geschäft feiert seine Erfolge durch die digitale Vermarktung, für die Menschen zu Influencer*innen werden. Make-up hat das Potential, Personen zu stärken. Am Bespiel von queeren Communieties zeigt sich die Magie von Make-up. Drag Queens oder Transgenders sprechen über die Bedeutung, das eigene Äußere selbst in die Hand zu nehmen, sich auszudrücken und dementsprechend die Wahrnehmung Anderer mitzubestimmen.
Doch wird dieses Potential immer so genutzt? Im Unterschied zu Make-up-Künstler:innen, die mit Pinsel und Palette auf der Haut wie auf einer Leinwand kleine Wunder entstehen lassen, sind die meisten Porträts im Netz gefilterte Aufnahmen. Gesichter und Körper werden „korrigiert“ und einer Schönheits-OP am Telefon unterzogen. Bei meinen Grübeleien bin ich auf ein Video einer Beauty-Influencerin gestoßen. Sie habe bereits mehrmals ihren Körper mit eigenen Bildern aus dem Netz verglichen und dabei vergessen, dass sie ihren Körper in den Fotos digital verändert hatte. Eine Orientierung an Bildern, die durch einen Beauty-Filter gegangen sind, wird dazu führen, dass Individualität und Einzigartigkeit weicht und alle (fast) gleich aussehen. 1810/12 kommt mir doch nicht mehr lang her vor.
In der Bilderflut unseres Zeitalters scheint es nicht leicht zu fallen, die Grenzen zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung zu erkennen und damit umzugehen. Ein weiterer Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts alarmiert mich: Die Teilnehmer:innen des digitalen Raums stellen eine viel größere Bandbreite unserer globalen Gesellschaft dar. Ich denke an Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und vor allem an Kinder und Jugendliche. Wenn die Selbstwahrnehmung einer erwachsenen Frau durch ihr eigenes Bild getäuscht oder verzerrt werden kann, welche Verantwortung tragen wir (Frauen, Männer und alle dazwischen) mit unseren veröffentlichten Bildern für die Selbstwahrnehmung anderer? Haben wir einen Einfluss darauf, ob und wann und warum aus einer OP am Smartphone ein Einschnitt in den Körper wird?