Autor: Mario Schröer (Mitarbeiter Kunstvermittlung)
„Haben Sie eine Passion? Was ist Ihre Leidenschaft?“ – „Kochen“, „Tennis“, „Mein Garten“, kommen nach kurzem Zögern erste Antworten aus der Gruppe. Mit einem Augenzwinkern legt jemand nach: „Meine Frau!“
Wir lauschen bei einer Besucherführung in der Sonderausstellung Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle. Der Vermittler spricht zwei der Besucher:innen direkt an: „Was ist für Sie das Besondere an Gartenarbeit, oder für Sie am Sport?“
Nach kurzem Zögern die Antworten: „Ich liebe die Farben und Gerüche der Pflanzen. Außerdem kann ich da entspannen, ich kann den Alltag vergessen.“
Und der zweite Besucher: „Manchmal tauche ich ganz ein, außer das Match vergesse ich dann alles um mich herum. Dann bin ich auch besonders gut. Dafür lohnt sich die Anstrengung!“
„Mit einer Passion sind also gute Gefühle verbunden?“
„Naja, Passion steht im Christentum ja auch für den Leidensweg von Jesus bis zum Tod am Kreuz…“, bemerkt eine andere Teilnehmerin.
Wir blenden uns nun aus dem Gespräch der Besuchergruppe aus. Schließlich ist das Museum seit dem 2. November wegen der gestiegenen Corona-Inzidenz geschlossen und der Vermittler steht nicht mit Besucher:innen in der Ausstellung vor den Originalen, sondern sitzt vor dem Laptop und versucht zu formulieren, was für ihn die aktuelle Sonderausstellung ausmacht. Aus der Erinnerung an die letzten Gespräche mit den Besucher:innen nimmt er mit, dass die für die Ausstellung zentralen Begriffe nicht eindeutig sind. Positive und negative Bedeutungsebenen scheinen einander zu widersprechen.
Er erinnert sich an den Katalogtext von Petra Marx, der Kuratorin der Ausstellung, in dem Geschichte und Bedeutung der Begriffe Passion und Leidenschaft erläutert werden. Demnach entstammt das Wort Passion dem griechischen πάσχειν [passchein] für „leiden, durchstehen, erleben“, bzw. dem lateinischen passio für „das Leiden“. Das deutsche Wort Leidenschaft existiert erst seit dem 17. Jahrhundert. Luthers Bibel kennt diese Übersetzung des lateinischen passio noch nicht. Nach heutigem Sprachgebrauch allerdings stehen Passion und Leidenschaft eher für positiv besetzte Gefühlsregungen. Die Herleitung der Vokabel vom „Leid“ oder „Leiden“ spielt im täglichen Sprachgebrauch so gut wie keine Rolle mehr.
Gefühle sind immateriell, was die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen schwierig macht. Dies ist heute in Zeiten hochleistungsfähiger Digitaltechnik nicht anders als etwa im 17. Jahrhundert zu Zeiten eines Charles le Brun, der erstmals einen Kanon der Verbildlichung menschlicher Emotionen aufstellte. Aber – und deshalb wünschen wir uns in die Ausstellung zurück – wir Menschen können Emotionen nicht nur wissenschaftlich untersuchen, wir sind darüber hinaus fähig sie auch mit künstlerischen Mitteln nachzufühlen! Musik, Theater und bildende Kunst machen spürbar, was Computertechnologie und Big Data bis heute nicht vollständig erklären können.
Kehren wir also imaginär in die Ausstellung zurück und tasten uns an die widersprüchlichen Gefühlswelten der Objekte heran. Die Zeit reicht für drei Exponate: Die Ausstellung wird durch einen Abguss der mächtigen „Laokoon-Gruppe“ eröffnet, wichtigste antike Skulptur für die Künstler der Renaissance! Sie zeigt den trojanischen Priester Laokoon und seine beiden Söhne im Todeskampf gegen die von der Göttin Athene gesandten Schlangen.
Alles im Körper der zentralen Figur ist Anstrengung und Qual. Adern treten hervor, das Zwerchfell ist eingezogen, der Brustkorb wölbt sich nach vorn. Das Gesicht ist verzerrt, auf der in tiefe Falten gezogenen Stirn ziehen sich die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen. Wangen und Nasenflügel sind ebenso stark durchgebildet wie die aufgewühlten Haar- und Bartsträhnen, die den zum Schrei geöffneten Mund einfassen.
Laokoon stemmt seinen von der Schlange umschlungenen rechten Arm empor, nicht ganz durchgestreckt, was die Anspannung umso mehr bezeugt. So zieht eine vom linken Fuß bis zum rechten Arm verlaufende Diagonale den gesamten Körper empor. Es ist ein Bild voller Dramatik und Kraft, ein Bild des heroischen sich Aufbäumens gegen das menschliche Leiden!
Hier hakt ein Besucher ein: „Das könnte auch die Pose eines Siegers sein!“ Tatsächlich ähnelt das Detail durchaus dem Jubelmoment beim Sieg, dem explosiven Strecken gen Himmel als Zeichen des Triumpfes. Vielleicht ist es genau diese Unbestimmbarkeit zwischen Sieg und Niederlage, die uns am Laokoon fasziniert.
Aber damit die Geschichte des Laokoon noch nicht auserzählt. Denn die 1506 in Fragmenten gefundene Skulptur wurde 1532/33 durch einen Michelangelo-Schüler ergänzt. Unter anderem hat dieser eben jenen, für unsere Wahrnehmung so wichtigen emporgestreckten rechten Arm, erst hinzugefügt – genau genommen ist er ein Werk der Renaissance! In dieser Form machte die Skulptur in den folgenden Jahrhunderten Karriere als Paradigma menschlichen Leidens. Die in unserer Ausstellung präsentierte Fassung ist eine Kopie dieses Zustandes. 1957 wurde nachgewiesen, dass es sich bei einem 1905 aufgefundenen Marmorfragment tatsächlich um den originalen rechten Arm des Laokoon handelte. Dieser ist zwar erhoben, im Ellenbogen jedoch angewinkelt und zum Kopf zurückgeführt. Das heroische Aufbäumen des Körpers wird unterbrochen durch die entgegengesetzte Bewegung des Kopfes. Der ursprüngliche und heute wieder in dieser Form in den vatikanischen Museen gezeigte Laokoon ringt nicht mehr mit der Schlange, sondern ergibt sich seinem Schicksal.