Autorin: Jessica Tropp (Mitarbeiterin Kunstvermittlung)
Was bedeutet es für ein Kunstwerk, erst dreißig Jahre nach der ursprünglichen und fast abgeschlossenen Konzeption realisiert zu werden – insbesondere, wenn es für den öffentlichen Raum entworfen wurde? Wie besteht die Idee eines Werkes im Wandel der Zeit und unserer Gesellschaft, sodass es nach drei Jahrzehnten ohne künstlerischen Qualitätsverlust und gleichem konzeptionellen Anspruch umgesetzt werden kann? Diese spannenden Fragen können exemplarisch an Bruce Naumans Werk Square Depression analysiert werden.
Hinter dem Titel Square Depression, was soviel bedeutet wie „Quadratische Senkung“, verbirgt sich ein außergewöhnliches, im Außenraum realisiertes Werk des amerikanischen Künstlers Bruce Nauman (geb. 1941 in Fort Wayne, Indiana, USA). Es ist eine zeitlose, durch ihre scheinbare Einfachheit bestechende, Bodenarbeit mit Standort am Naturwissenschaftlichen Zentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ihre Form kann als Quadratische Senkung oder inverse Pyramide beschrieben werden: Vier gleichschenklige Betondreiecke mit einer Seitenlänge von jeweils 25 Metern senken sich zum Mittelpunkt als negatives Quadrat mit einer Neigung von 10 Grad in den Erdboden ab. Die Spitze erstreckt sich demnach nicht in den Himmel, sondern liegt 2,30 Meter unter Bodenniveau. Das Volumen der naumanschen‘ negativ Pyramide nimmt so keinen zusätzlichen Raum ein, sondern verdrängt diesen unterhalb der Erdoberfläche. So steht man als Betrachter:in nicht wie üblich vor einer sich erhebenden Skulptur, sondern vor einer gleichförmigen, quadratischen Senke – eine Skulptur „ex negativo“, ein Rest oder ein Abdruck. Der bei dieser Arbeit verwendete Beton ist substanziell für das Werk, sowohl in Bezug auf das Material in Kontext der Zeit, als auch für die Rezeptionsästhetik der Betrachtenden. Weiß, kühl und glatt erstreckt sich der 600qm weitläufige Platz zwischen den Gebäuden. Durchgehend gleichfarbig, erscheint die weiß verputzte Betonoberfläche zunächst ebenerdig erst bei genauerer Betrachtung wird die in der Mitte zulaufenden Absenkung sichtbar.
Bereits 1977 wurde das Konzept von Bruce Nauman zu dieser Arbeit entwickelt, die im Rahmen der ersten Skulptur Projekte Münster hätte realisiert werden sollen. Nach der Begehung von diversen Standorten entschied sich der Künstler für den Platz der Naturwissenschaften an der Wilhelm-Klemm-Straße. Das Vorhaben wurde jedoch aufgrund von Bedenken des staatlichen Bauamtes nicht umgesetzt. 2007 wurde das Projekt von dem neuen Team der Skulptur Projekte Münster abermals aufgegriffen. Für die Umsetzung von entscheidendem Vorteil war der Aspekt, dass sich der von Nauman vor dreißig Jahren ausgewählte Standort kaum verändert hatte. Unter diesen Umständen stimmte er der Realisierung zu. Gleichzeitig gab es einen positiven Nebeneffekt: Das ursprüngliche in der Mitte des Scheitelpunktes zu installierende Abflussrohr mit einem Durchmesser von 15 Zentimetern, welches den Gesamteindruck der Arbeit massiv beeinflusst hätte, konnte durch den aktuelleren Stand der Technik durch ein besseres Entwässerungssystem ersetzt werden (entlang der Drainage an den Kanten), so dass die Ausformung der Dreiecksspitzen gegeben war.
Square Depression kann nicht nur visuell und intellektuell aus der Distanz wahrgenommen werden - die individuelle körperliche Erfahrung der Betrachtenden ist der ausschlaggebende Kernaspekt dieser Skulptur. Nauman konzipierte bereits zuvor „Erfahrungsarchitekturen“, wie Korridore, Tunnel, Passagen und Räume, bei denen sich der:die Betrachtende ganz auf die eigene, subjektive körperliche Wahrnehmung bei Begehung des Werks einlassen musste. Das Spiel mit Wahrnehmung, Perspektive und Proportion gelingt Nauman bei Square Depression grandios – die Betrachter:innenperspektive ändert sich umgehend beim Betreten der Arbeit und hinabsteigend in die Senke. Auf der überdimensionalen, weiß leuchtenden Plattform entsteht der Eindruck einer Bühne. Der:die Betrachtende muss Stellung beziehen, muss sich positionieren und bewegen, eine Notwendigkeit die normalerweise durch die Inszenierungsarbeit der Kurator:innen abgenommen wird. Der Bühnencharakter lässt ein taten- und gedankenloses Erfahren kaum zu, denn von außen wird gleichzeitig beobachtet. So wird der:die Besucher:in nicht nur zum:zur Betrachtenden und Erfahrenden, sondern gleichzeitig auch zum Teil des Kunstwerks selbst, welches beobachtet wir. So isoliert sich das Individuum beim Betreten der Skulptur vom Außenraum, es wird ganz auf sich selbstzurückgeführt. Die Skulptur wird demnach erst in dem Augenblick rezipiert, in dem das Subjekt bereit ist, sich in ihr wahrzunehmen. So wird der eigene Körper durch die Selbstbefragung und Inszenierung zum Kunstwerk. Diese Wechselwirkung zwischen Körper- und Raumerlebnis, die verstärkte Fokussierung auf die physische Erfahrung, ist die logische Konsequenz aus der Entwicklung der Minimal und Land Art.
Square Depression ist eine der von Nauman wenigen in Europa existierenden Außenskulpturen. Der Beton als gebräuchlichstes Material für minimalistische Außenskulpturen in der Gegenwart, ist zeitlos genug, diesem Objekt einen Anspruch auf Ewigkeit zu verleihen, wenn man Ewigkeit aus der wittgensteinschen‘ Perspektive nicht als ewige Zeitdauer, sondern als Unzeitlichkeit betrachtet. Die Popularität dieses Kunstwerks ist bis heute nicht gebrochen – Kunst im öffentlichen Raum kann provokativ sein und aufgrund von Ästhetik oder gesellschaftskritischer Botschaft öffentliche Erregung hervorrufen: Bei Nauman lässt sich aber kaum ein Stein des Anstoßes finden, so glatt, so harmonisch und weiß ist diese Arbeit, deren Aktualität bis jetzt nicht eingeholt ist. Wirklich erlebbar wird es für die Menschen gemacht, die in der Nähe wohne, wie Nauman sagt. Sie können die Skulptur tagtäglich viele Male in verschiedenen Situationen neu für sich entdecken. Wechselndes Wetter, Licht, wechselnde subjektive Stimmung, Eile oder Entschleunigung – es ist eine andauernde Erfahrung. Es ist nichts, worauf Nauman hinweist, wo man hingeht, darüber nachdenkt und wieder weggeht. Es ist etwas, mit dem man lebt.
Im Jahr 2009 konnte die Arbeit durch das LWL-Museum für Kunst und Kutur mithilfe des Landes Nordrhein-Westfalen und der Sparkasse Münsterland-Ost dauerhaft erworben werden. Die WWU Münster plant aktuell einen neuen Campus und die Pyramide wird im nächsten Jahr dem neuen Gebäude weichen müssen. Square Depression wird in unmittelbarer Nähe, schräg gegenüber, wo ein neuer zentraler Platz entsteht, neu errichtet. Der öffentliche Raum verändert sich, die Kunst wächst mit.