Kunstwelten: Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken

17.12.2021 Sara Hirschmüller

Autor: Phillip Ost (Stud. Volontär)

In die Geschichte des 21. Jahrhunderts werden die 2020er Jahre vermutlich als das paradigmatische Jahrzehnt eingehen: der Klimawandel und seine Folgen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, Schüler*innen gehen zum Protest dagegen weltweit auf die Straße und Covid-19 hält die Menschheit über lange Zeit in Atem. Auch wenn die abschließende Beurteilung der Gegenwart aus jetziger Sicht bloße Spekulation sein muss, so steht doch eines bereits fest: die globalisierte Welt befindet sich in einer existenziellen Krise, an einem tiefgreifenden Wendepunkt. Viel zu lange haben Egoismus, Nationalismus und das immerwährende Streben nach wirtschaftlichem Wachstum und Konsum die globalen Ungleichheiten zementiert, ein immer größer werdendes Gefälle zwischen Globalem Norden und Süden vorangetrieben. Dass diese Schere kleiner werden muss und Kooperation statt Konfrontation Grundlage globalen Handelns sein sollte, liegt auf der Hand. Doch wo Politiker und Wirtschaftsführer zwischen Sach- und ideologischen Zwängen umherlavieren, erprobt und denkt die Kunst bereits Alternativen. Mit „Nimmersatt? Gesellschaft ohne Wachstum denken“ versammeln das LWL-Museum für Kunst und Kultur, der Westfälische Kunstverein und die Kunsthalle Münster, erstmalig in institutionsübergreifender Zusammenarbeit, unterschiedlichste künstlerische Positionen, die sich mit den Ursachen, Symptomen und Folgen nimmersatter Gesellschaften und ihrer politisch-ökonomischen Systeme auseinandersetzen.

George Adéagbo verbindet Elemente aus Münster und Benin und plädiert dabei für einen verstärkten transkulturellen Dialog. © Georges Adéagbo und VG Bild Kunst, Bonn 2021. Foto: LWL/Hanna Neander

Bereits im ersten Raum der Ausstellung initiieren Andrea Bowers und Georges Adéagbo einen Dialog des kulturellen Austauschs und der gegenseitigen Akzeptanz: in seiner raumgreifenden Installation Les Religions et L’Histoire des Religions avec la Fête des Religions arrangiert der aus Benin stammende Adéagbo gefundene Objekte, Tafelbilder und Literatur zu einem Plädoyer für den gleichrangigen Austausch zwischen Globalem Süden und Globalem Norden, der Unterschiede anerkennt anstatt sie als Grundlage einseitiger Vorrangstellungen zu betrachten. Seine Arbeiten laden ein zum Assoziieren und zur Herstellung eigener Bedeutungszusammenhänge, die durchaus auch Fehler und Missinterpretationen beinhalten dürfen.

Qu’est-ce qu’est l’art? Une manière de parler avec son prochain, sans devenir son ennemi nannte der Künstler 2017 eine seiner Ausstellungen und betonte damit die globale Nachbarschaft der Menschheit und die kommunikative Kraft der Kunst. Dabei stößt er auch immer einen Austausch mit dem Ausstellungsort an, denn in seine Installationen fließen ortsbezogene und vor Ort gefundene Objekte und Artefakte ein: so finden sich in Adéagbos komplexem Narrativ immer wieder Anspielungen auf die Geschichte Münsters, dessen wirtschaftliche Prosperität und die Bedeutung des Katholizismus.

Andrea Bowers, My Name means Future, 2020 Video, Farbe, Ton, 51:06 Min. © Andrea Bowers

Demgegenüber versetzt Andrea Bowers die Betrachter:innen in ihrer Videoarbeit My Name means Future in den Nordwesten der USA: dort kämpft die Protagonistin Tokata zusammen mit Vertreter:innen der indigenen Bevölkerung gegen den Bau einer Erdölpipeline, die Landschaft, Natur und damit auch die dort lebenden Menschen unmittelbar bedroht. Sie nimmt die Künstlerin mit zu einigen ihrer heiligsten Orte und erläutert die Bedeutung der umliegenden Landschaft und deren Geschichte. Gleichzeitig spricht sie aber auch die politische Dimension der beeindruckend schönen Natur an, die zum Spielball wirtschaftlicher Interessen geworden ist.

An diesem Punkt zeigt sich einmal mehr, wie vermeintlich ferne Konsuminteressen in den Alltag und das Leben lokaler Bevölkerungen hineinwirken: als Rohstoff für die Herstellung von Benzin und Kunststoff ist Erdöl omnipräsentes Triebmittel globalen Konsums, dessen Abbau zulasten kultureller und biologischer Diversität geht. Deshalb beschreibt die Protagonistin, deren Name Tokata in der Sprache der Standing Rock Sioux in North Dakota tatsächlich Zukunft bedeutet, wie kulturelle Eigenheiten und Diversität, genauso wie die Potenziale der Natur in Problemlösungsprozesse eingebracht werden und zu besseren Ergebnissen führen können, die gerade nicht einseitig Minderheiten benachteiligen, sondern aktive Teilhabe ermöglichen.

Eva Koťátková , The Machine for Restoring Empathy , 2021 , Foto: LWL/Hanna Neander

Der Begriff der Teilhabe wiederum schlägt einen Bogen zur Skulptur von Eva Kot’átková: ihre Machine for Restoring Empathy versteht sich als Medium zur Wiederherstellung von Empathie und für die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen. Eva Kot’átková wurde 1982 in Prag geboren und hat ihre Kindheit teilweise noch im repressiven kommunistischen System verbracht, das Anderssein und Andersdenken verbot. Ausgehend von diesen Erfahrungen beschäftigt sich die Künstlerin mit dem Anderssein und den damit verbundenen negativen wie positiven Erfahrungen. Die Empathiemaschine fungiert dabei als temporärer Treffpunkt marginalisierter oder ungehörter Gruppen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, der Schutz und Unterstützung bietet und zu dem jede:r beitragen kann. Richtig zum Leben erweckt wird sie jedoch erst durch die Partizipation von Performer:innen, die zwischen Maschine und Betrachter:innen vermitteln: sie lesen Geschichten von Empathie und Ausgrenzung vor, vernähen Löcher im Körper der Maschine oder schreiben selbst Geschichten der Besucher:innen auf. Dadurch wird die Machine for Restoring Empathy zum Geschichtenarchiv, das die Bedeutung von Empathie für das menschliche Zusammenleben vor Augen führt und mit jeder Ausstellung weiterwächst.

Nina Fischer & Maroan el Sani. Die Alchemie der Wolken. Art, Activism and Splitting Communities, 6 Kanal Videoinstallation , Trichterförmige Holzkonstruktion, 2021 Production Still, 2021 © Fischer & el Sani und VG Bild Kunst, Bonn 2021 Koproduziert durch das LWL Museum für Kunst und Kultur. Gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.

Gleich nebenan befindet sich die umfangreichste Arbeit der Ausstellung: Die Alchemie der Wolken – Art, Activism and Splitting Communities von Nina Fischer und Maroan el Sani, eine eigens für die Ausstellung vom LWL-Museum koproduzierte, sechskanalige Videoarbeit. In und um eine arenahafte Konstruktion werden auf sechs Screens verschiedene Perspektiven auf die gesellschaftlichen Dynamiken innerhalb eines fiktiven Dorfes, aber auch auf die Entstehung des Films möglich: ausgehend von Texten des japanischen Schriftstellers Toshiki Okada hat das Künstlerduo im Rahmen eines Workshops mit Künstler:innen eine Situation simuliert, in deren Zentrum eine Wolke steht. Diese Wolke wird von einigen Dorfbewohner:innen als bedrohliches Zeichen aufziehenden Unheils angesehen, andere hingegen messen ihr wenig Bedeutung bei und sehen keinen Grund zum Handeln. So entwickelt sich die Wolke zum gesellschaftlichen Spaltpilz, der Fragen innerhalb der Dorfbevölkerung aufwirft, die auch die konkrete Gegenwart betreffen: reagiert die Menschheit endlich und ändert ihr Verhalten, ihren Konsum und ihre Lebensformen oder soll alles so bleiben, wie es ist? Bleibt die Menschheit passiver Beobachter oder will sie aktiv das Steuer in die Hand nehmen und Klimawandel und Ressourcenausbeutung stoppen? Angesichts der auch in Deutschland zunehmenden gesellschaftlichen Fliehkräfte, die letztendlich einer Spaltung Vorschub leisten, bietet Die Alchemie der Wolken eine Mikroperspektive auf sich aktuell vollziehende Phänomene.

Anhand der verschiedenen künstlerischen Arbeiten und Themenstellungen möchte „Nimmersatt?“ zum Nachdenken anregen ohne den moralischen Zeigefinger zu heben oder vorgefertigte Antworten zu geben. Viel mehr öffnet die Ausstellung einen Reflexionsraum, der die Besucher:innen einlädt, globale Problemstellungen durch künstlerische Arbeiten verstehen und nachvollziehen zu lernen, möglicherweise verlorengegangene Empathie zurückzugewinnen und die Gegenwart aus neuen Blickwinkeln zu betrachten.

Kategorie: Kunstwelten