Kunstwelten: Die eigene Vergangenheit aufarbeiten

28.09.2020 Sara Hirschmüller

Lovis Corinth, Königsberger Marzipantorte, 1924

Auf der Suche nach dem Leben hinter den Bildern

Autor: Mario Schröer (Mitarbeiter Kunstvermittlung)

Die aktuelle Ausstellung des LWL Museums „Eine Frage der Herkunft. Geschichte(n) hinter den Bildern“ spiegelt die Arbeit der Kollegin Eline van Dijk. Als „Provenienzforscherin“ hat sie den Auftrag, die Eigentumsverhältnisse der Objekte im Museumsbestand aufzuklären.

In einem ersten Schritt wurden gut 120 Werke untersucht, die vor 1945 entstanden sind und nach 1933 ins Haus kamen. Damit ist ein wichtiger Anfang gemacht, denn es geht u.a. um Werke, deren Künstler in der Zeit des Nationalsozialismus als „entartet“ galten, oder um Werke, deren (jüdische) Besitzer ihrer Sammlung beraubt wurden. Viele Objekte dieser Zeit gingen durch die Hände dubioser Kunsthändler. Der Name Gurlitt etwa fällt bei vielen Gesprächen mit den Ausstellungsbesuchern. Gibt es auch in unserer Sammlung Werke, deren Herkunft bedenklich ist? Dieser Frage nachzugehen bedeutet für das Museum, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Nicht weniger ist der Auftrag an die Kollegin. Die Ausstellung zeigt die ersten Ergebnisse ihrer Arbeit.

Schauen wir uns ein einziges der untersuchten Werke näher an, um eine Vorstellung von dieser „Detektivarbeit“, zu bekommen! Besser gesagt, schauen wir uns die hinter diesem Werk stehenden Geschichten an, die auch die Lebensgeschichten der beteiligten Menschen sind.

Wir wählen ein Stillleben in Öl auf Holz von Lovis Corinth. Das Querformat zeigt auf 54,5 x 70 cm eine Marzipantorte in einem geöffneten Geschenkkarton. Die Farbe ist pastos mit schnellem Strich aufgetragen. Corinth bildet nicht im Detail ab, sondern lässt Farben und Formen ineinanderfließen. Sein Gegenstand ist nicht das Objekt, sondern dessen sicht- und spürbare süße Üppigkeit.

Uns aber geht es nicht um das Werk an sich, das sonst in der Kunstvermittlung unangefochten an erster Stelle steht. Auch ist ausnahmsweise zweitrangig, wie wir als Betrachter das  Werk erleben und auf welchen Wegen der Maler uns einbezieht. In dieser Kunstgeschichte geht es um die Herkunftsgeschichte(n) und damit um die Menschen, die sich mit dem Gemälde umgeben haben. Es geht um ihre Schicksale, ihr Glück, ihre Erinnerung – ihr Leben. Zur Vorbereitung der Ausstellung hat der Verfasser einen kleinen Teil dieser Recherchen übernommen, eine spannende und abwechslungsreiche Aufgabe!

Die Herkunftsgeschichte des Gemäldes von Lovis Corinth schreibt sich so: Regelmäßig zu Weihnachten erhielt der Maler eine Marzipantorte aus seiner ostpreußischen Heimat Königsberg. Schon 1918 hatte er eine solche in Öl festgehalten, dieses Gemälde gilt heute als verschollen. Unsere „Marzipantorte“ malte Corinth 1924 und verkaufte sie 1925 an Wilhelm Müller, den Direktor der „Damm & Ladwig Schloss- und Beschlägefabrik Velbert“. Dies bezeugen Müllers Briefe an Corinth, die sich im Deutschen Kunst Archiv in Nürnberg finden.

Vertieft man sich in den Briefwechsel, werden Verkaufsumstände klarer und man kommt den beteiligten Menschen näher. Wilhelm  Müller stellte sich als Sammler mit besten Kontakten in die Künstlerszene vor, der sich ausschließlich für Ölgemälde interessierte. Er kaufte das Werk direkt vom Künstler. Thomas Corinth, des Sohn des Malers, erinnerte sich später an einen Zigarrenabschneider, den Müller seinem Vater zum Dank geschickt hatte: „Wenn ich ihm seine Abendzigarre reichte, durfte ich die Spitze mit der ‚Guillotine‘ abschneiden, ihm die Zigarre reichen und anzünden. Zum Spaß ließ mich mein Vater seine Zigarre manchmal anrauchen; dies machte mich aber nicht zum Raucher.“ Der Leser ahnt es: In die Geschichte der Herkunft eines Objekts einzutauchen, heißt, sich in andere Welten zu begeben, heißt mitunter auch, sich im Kleinen zu verzetteln…

Nach dem Kauf durch Wilhelm Müller klafft in der Provenienz eine Lücke bis ins Jahr 1950. Was wissen wir? Im September 1950 befand sich das Gemälde im Besitz von Irene Sörgel aus Oberstdorf, die es mit anderen Werken dem Landesmuseum Hannover zum Kauf anbot. Wann und von wem hat sie das Gemälde erworben? Sörgel, die sich in ihren Briefen an das Landesmuseum Hannover als Kunsthändlerin vorstellte, ist als solche bisher unbekannt. Hinweise auf ihre Sammlung existieren nur in ihren Briefen.

Lässt sich diese Lücke schließen? Gibt es noch Zeugen, die Auskunft geben können?  Das Standesamt in Velbert hilft bei der Suche nach der Familie des ersten Besitzers Wilhelm Müller. Müller war verheiratet mit Emilie Emma Müller, geborene Kummetz. Dass die Hochzeit 1899 im ostpreußischen Seckenburg stattfand könnte Müllers Interesse an der Königberger Marzipantorte erklären – aber wir wollen uns diesmal nicht verzetteln… Aus der Ehe gingen die Söhne Walter und Werner Müller hervor. Die Anfrage beim Standesamt Velbert nach der dritten Generation bringt einen Treffer! Während zu Walter Müller keine Kinder verzeichnet sind, hatte Werner Müller einen Sohn (Bernd, *1930) und eine Tochter (Toni, *1935). Dr. Bernd Müller konnte vom Standesamt Velbert ausfindig gemacht und kontaktiert werden. Der 89jährige erfreut sich guter Gesundheit und steht für ein Gespräch gerne zur Verfügung! Einer ersten telefonischen Auskunft zufolge erinnert sich Bernd Müller an Gespräche über die ehemalige Kunstsammlung des Großvaters, die während der Wirtschaftskrise veräußert worden sei. Seine Erinnerung deutet also auf eine Veräußerung ab 1929 hin. Dies ist noch heute, im September 2020, Stand der Recherchen. Ob sich aus dieser Quelle ein Hinweis bezüglich des Käufers ergeben wird? Lässt sich so klären, auf welchen Wegen das Gemälde in den Besitz Irene  Sörgels kam, die es 1950 zum Kauf anbot?

Irene Sörgel, geb. Villányi und ihr Ehemann, der Architekt Hermann Sörgel, flohen 1943 vor dem Bombenkrieg aus München nach Oberstdorf. 1950 kehrten sie nach München zurück. Informationen zum Ehepaar Sörgel bietet das Architekturmuseum Frankfurt a.M. und eine Dissertation zu Leben und Arbeit Hermann Sörgels.

Hermann Sörgel arbeitete ab 1928 an einem Projekt, das er „Atlantropa“ nannte. Er verfolgte die Idee, das Mittelmeer mit Hilfe eines Staudamms bei Gibraltar zu verschließen und so ein Mega-Wasserkraftwerk zu realisieren. Außerdem sollte das Mittelmeer durch die Kappung des Wasserzuflusses teilweise trockengelegt werden. So wollte Sörgel Land gewinnen und eine Verbindung von Afrika und Europa schaffen. Aus heutiger Sicht eine beängstigend wahnwitzige Utopie! In den technikgläubigen Zeiten vor dem Krieg und in den 50er Jahren jedoch für viele ein vorstellbares Szenario.

Bezüglich Irene Sörgel ergibt sich das Bild einer wohlhabenden Dame aus gutem Hause, die das Projekt ihres Mannes auch finanziell unterstützte. Interessant für uns ist, dass Irene Sörgel Halbjüdin war. Und: Hermann Sörgel hat versucht, auch in höheren nationalsozialistischen Kreisen für sein Projekt zu werben. Spätestens 1937 aber verlor er diese Unterstützer, nachdem er öffentlich die Aufrüstung kritisierte und vor der Kriegsgefahr warnte. Sörgel bekam Besuch von der Gestapo und durfte ab 1943 nicht mehr publizieren. Die Sörgels als Profiteure eines NS-verfolgungsbedingten Entzugs? Kaum vorstellbar. Konkrete Informationen zu Vorbesitzern oder gar zu Umständen von Kauf und Verkauf fehlen bis heute. Die Wissenslücken der 30er und 40er Jahre konnten (noch) nicht geschlossen werden.

Auch die Provenienz der Nachkriegszeit weist Fragezeichen auf, die für einen eventuellen unrechtmäßigen Entzug während der NS-Zeit allerdings wohl irrelevant sind: Sörgel bot dem Landesmuseum Hannover die „Marzipantorte“ 1950 zum Kauf an – es kam aber nur zu einer Ausleihe für die Ausstellung zum 60. Todestag des Künstlers. Verkauft (oder in Kommission gegeben) wurde das Gemälde 1950 an den Münchener Kunsthändler Franz Resch. Resch, das ist sicher, verkaufte es 1951 an die Staatsgalerie Stuttgart. 1955 gelangte der Corinth durch Tausch gegen einen Kirchner und einen Chagall in den Besitz der Baseler Galerie Beyeler, noch im gleichen Jahr bot es die Kölner Galerie Aenne Abels (in Zusammenarbeit mit der Galerie Beyeler?) zum Kauf an. 1956 erwarb Paul Pieper die „Königsberger Marzipantorte“ für das Landesmuseum Münster.

Damit endet vorläufig die Herkunftsgeschichte der „Königsberger Marzipantorte“ von Lovis Corinth. Im Dossier der Provenienzforscherin van Dijk heißt es nun: „Für einen NS-verfolgungsbedingten Entzug des Gemäldes liegen keine Hinweise vor, doch kann ein solcher nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da sich der Verbleib des Kunstwerks im Zeitraum von 1933 bis 1945 nicht klären ließ.“ Das Werk wird klassifiziert als „Nicht zweifelsfrei unbedenklich“.

Ist die in dieser Sackgasse steckende Forschung nun gescheitert? Nein, denn der Auftrag dieser wie aller Forschung ist, Wissenslücken zu schließen oder – wo dies nicht mehr oder noch nicht möglich ist – Wissenslücken als solche kenntlich zu machen. Die Suche nach dem Leben hinter den Bildern ist so wichtige Vorarbeit für spätere Forschungen!

Derweil begibt sich Eline van Dijk an ihr neues Teilprojekt. Sie befasst sich nun mit Gemälden und Tafelmalereien des Mittelalters sowie des 16. bis 19. Jahrhunderts, insgesamt 170 Werke. Auch dies nur ein kleiner Teil der fast 300.000 Objekte umfassenden Sammlung des Museums. Eine Lebensaufgabe!

Kategorie: Kunstwelten

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