Kunstwelten: Was sieht man, wenn die Augen Pause machen?

06.08.2020 Sara Hirschmüller

Foto: LWL/ Hanna Neander

Ein Plädoyer fürs Rumsitzen im Museum

Von Anna-Lena Treese (Mitarbeiterin der Kunstvermittlung)

Ein weißer, hoher Raum. Man blickt über mehrere, spitz aufgetürmte, gräuliche Schutt- oder Erdhaufen auf eine Ecke, den Zugang zu diesem offensichtlich sonst sehr cleanen Ausstellungsraum. Helles Licht. Hinter einem Vorsprung ist ein Klappstuhl für eine Aufsicht zu erkennen. Kulturell entsprechend Geprägte schließen: Ein Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst. Vielleicht konkrete Kunst, vielleicht nicht. So weit, so gut. Erst herrscht sakrale Stille, die von Schritten durchbrochen wird. An der Ecke erscheint ein Kopf und verschwindet sofort wieder. Offensichtlich ein älterer Herr, er ruft etwas hinter sich. Der Kopf erscheint wieder, dann traut sich der Rest herein. Ein Mann um die 70 in Cordhose und dunkelbraunem Pullover blickt kritisch über seine Brille. Ein weiterer älterer Herr kommt dazu, erkennt, wo er ist, und beide verschwinden schnellen Schrittes.

Schnitt.

Nächste Szene. Derselbe Raum. Dieselbe Ausgangslage. Im Eingang des Raums erscheint eine junge, androgyne Gestalt, schwarz und modisch gekleidet. Sehr weite Hosen, eine Frisur aus den Neunzigern, oversized Blouson. Hip, könnte man sagen. Der Besucher bleibt stehen, fixiert den Erdhaufen, still, ohne jede Bewegung. Wie ein Fischreiher. Es folgt eine lange Sequenz, in der nichts passiert.  

Schnitt.

Diese Szenen stammen aus Ruben Östlunds Film „The Square“ (2017) und erzählen kommentarlos das, was sich so oder so ähnlich in entsprechenden Sammlungen abspielt. Der Blickwechsel auf die Perspektive des Kunstwerks ist reizvoll. Stille, groß inszenierte Räume, viel Aura und ehrfürchtige Stille – oder? Man könnte sich zwischen die Objekte stellen, eine Art Mimikri vollführen. Was sähe man?

Museumsräume, Museumsvorräume und ganz besonders die Schwellen zu Museumsräumen bieten Stoff für Beobachtungen, nicht nur der eingangs beschriebenen Art. Das LWL-Museum für Kunst und Kultur ist in seiner Architektur von Volker Staab und Szeneografie ganz danach ausgerichtet, sich in eben solchen Zuständen und Räumen zwischendurch immer wieder aufzuhalten. Keine Beobachtungsposten oder extravaganten Kleinmöbel für die besonders exponierte Pause sind damit gemeint, eher kleine Sitz-Inseln in großen Zwischenräumen, hier auch Scharnier- oder Rekreationsräume genannt. Hier lohnt es sich, den Blick ins Leere laufen zu lassen – mal sehen, wo er ankommt. Eben genau nicht im Leeren. Kaum ein Ort bedarf der Entspannung für die Augen (und den Rest des Körpers) so sehr wie ein Museum. Nicht selten stellen insbesondere große Institutionen eine körperliche Herausforderung dar. Dabei gibt es gar nichts zu gewinnen. Vielleicht versucht der ein oder andere das Preis-Leistungs-Verhältnis in Einklang mit eigenen Ansprüchen zu bringen. Wie man seine Umgebung wahrnimmt, ist nicht nur von der umbauten und kuratierten Umgebung abhängig. Je nachdem mit wie vielen Besucher:innen man durch Ausstellungsräume ‚wabert‘, ob man schnell geht, um ‚noch mal eben alles mitzunehmen‘ (Berufskrankheit von Kunsthistoriker:innen), sucht man Gespräche oder Kontemplation, Diskussion, Stress oder einfach nur seine Ruhe. Erwartungen an das Erlebnis Museumsbesuch sind sehr verschieden.

Kein Museum ist neutraler Raum. Und gerade deshalb lohnt es sich, diesen Raum genauer in Augenschein zu nehmen. Idealerweise ohne die Anstrengung, ihn verstehen oder genauer betrachten zu müssen. Wie gut erinnern sich die meisten Besucher:innen an Jahreszahlen, Rahmungen oder Wandtexte im Vergleich zu den Sitzgelegenheiten? 

Was wäre beispielsweise das Kunsthistorische Museum in Wien ohne oppulente Ledersofas, die Besucher:innen genau das entlocken, was die Kunst höchst selbst in ihrer (natürlichen) Umgebung eigentlich am meisten von allem braucht: Zeit. Idealerweise in entspannter Haltung – wie der eingangs beschriebene Typus des Fischreihers in seinem Biotop. 

Kategorie: Kunstwelten